Hüben wie drüben

Lustige und weniger lustige Kleingeschichten

Inhalt

Isilkul I-V

I

Mir dünkt, dass Gott sich in einem Zustand des äußersten Kräfteverfalls befand, als er das Fleckchen Erde erschuf, wo ich das Unglück hatte, auf die Welt zu kommen. Am Ende des sechsten Tages muss er sich wohl an irgendwelche Mängel erinnert und sich doch noch einmal auf die Arbeit gestürzt haben, um sie zu beseitigen – doch da brach der siebte Tag an, der leider schon als Ruhetag vorgesehen war – und unser Landesteil blieb für immer unvollendet.

Sehen Sie selbst: eine Steppe, flach wie der Boden eines Kochtopfes, hier und da lichte Birkenhaine, gnadenlos kalte Winter und kühle Sommerzeiten – das ist das Bild von unserem Westsibirien.

Auf die Frage, wo ich geboren bin, antworte ich stets stolz „In Sibirien“.

- Oooh, - schüttelten meine Moskauer Freunde ehrfürchtig mit den Köpfen, - die Taiga, wilde Bären… Was hast du für ein Glück gehabt, in diese Schönheit hineingeboren zu werden. Und wir müssen uns hier in Moskau mit der Urbanisierung herumquälen…

- Hört mir bloß auf mit der Schönheit, - antwortete ich, wissend, dass es mir nicht gelingen würde, jemanden zu überzeugen. – Ich habe weder die Taiga noch wilde Bären gesehen, und was die Urbanisierung betrifft, so hätte man gerne etwas mehr davon in dieser ödnis.

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II

Es ist schon eine seltsame Gegend, in der wir aufgewachsen sind. Lange konnte ich die Existenzberechtigung solcher Orte wie die Stadt Isilkul nicht nachvollziehen. In den Dörfern, ist klar – da leben Bauern, in den Städten – Stadtbewohner. Aber unsere Stadt – das war doch zum Piepen, das war ja nicht mehr als eine Bezeichnung! Ein Haufen einstöckiger Häuser irgendwo in der Steppe, die jedes Jahr um einen weiteren Zentimeter im Boden versanken.

Anscheinend waren aber auch solche gottverlassenen Gegenden von Nutzen: unser Getreidespeicher, der die Umgebung wie der Eifelturm überragte, nahm das von den Kolchosfeldern gelieferte Korn auf, das dann auf gespenstische Weise verschwand; die Möbelfabrik sollte Möbel produziert haben, doch nie hatte jemand diese Erzeugnisse im Handel gesehen. Sie wurden wohl für den Export bestimmt oder zum Verkauf außerhalb unseres Gebiets ausgeführt; wir hatten auch ein Kugellagerwerk, dessen Zweck, so wie wir Kinder es verstanden, darin bestand, dass wir dort Kugellager klauen konnten. Das Risiko in die Hände der Werksarbeiter zu gelangen war groß, aber auch die Versuchung war riesig: aus zerschlagenen Kugellagern entwendeten wir die Metallkugeln verschiedener Größen, die wir als Bomben und Artilleriegeschosse für unsere Spielzeugarmeen verwendeten. Außerdem hatten diese Kügelchen einen bedeutenden Vorteil hinsichtlich der Zielsicherheit und Durchschlagkraft beim Schießen mit der Schleuder. Jemand, der mit einer Metallkugel schon mal eine Krähe oder eine Elster vom Baum geholt hatte, konnte nicht mehr so tief sinken und mit Steinen schießen.

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III

Was sind denn das für Zeiten! Gerade hatte ich mich auf den Weg nach draußen gemacht, um eine zu rauchen, da erinnerte ich mich daran, dass mein Sohn gleich aus der Schule kommen sollte und überlegte es mir anders. Nachdem er mich ein paar Mal mit Tränen in den Augen angefleht hat, mit dem Rauchen aufzuhören, kann ich in seiner Gegenwart nicht mehr dampfen. Es ist doch irgendwie seltsam: früher haben sich die Kinder vor ihren Eltern versteckt, um heimlich zu rauchen, und heute verstecken sich die Eltern vor ihren Kindern. Mein Sohn weiß nicht mal, an welchem Ende man die Zigarette anzündet, weiß aber, dass das Rauchen die Gesundheit schädigt und erinnert mich ständig daran. Er ist 9 Jahre alt. Als ich 9 war, hatte ich zum ersten Mal mit dem Rauchen aufgehört.

Es geschah so: ich saß auf einem Bänkchen im Hühnerpferch und zog genüsslich an einer Belomorkanal-Papirosse, die ich morgens aus der Jackettasche meines Vaters geklaut hatte, während er sich vor der Arbeit rasierte. Gleichzeitig hatte ich auch das Kleingeld, das mir in die Finger gekommen war, mitgenommen, so dass der Tag sich angenehmen gestalten ließ: ein Kinobesuch, eine Runde Schaukelschwingen im Stadtpark und eine Flasche Limo waren der Lohn für meinen frechen Diebstahl.

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IV

Die internationale Bühne betrat unser Isilkul Ende der 60-er Jahre, als die besten Söhne der Mongolischen Volksrepublik zur Ausbildung an der Isilkuler Fachschule für Landwirtschaft abkommandiert wurden. Die ausländischen Gäste waren kleinwüchsig, zeichneten sich durch ausgesprochene Freundlichkeit aus, waren bestrebt, sich unauffällig zu verhalten, und wenn man bedenkt, dass sie den Kasachen, die in unsere Stadt zu Samstagsmärkten einkehrten, sehr ähnlich sahen, und wenn sie nicht in ganzen Kolonnen in die Banja (russisches Dampfbad) gegangen wären, wäre ihre Anwesenheit in unserem verschlafenen Städtchen völlig unbemerkt geblieben. Schon bald hatten wir uns an sie gewöhnt und gafften ihnen nicht mehr mit geöffneten Mündern nach, während die Gerissensten unter uns mit den Mongolen sogar Handelsbeziehungen knüpften.

Besonders beliebt waren Pelz- und Lederwaren der mongolischen Gerber und ausländische Zigaretten, während Münzen- und Briefmarkensammler ihre Sammlungen durch nie dagewesene Stücke komplettierten, die, in Anbetracht der offensichtlichen Rückständigkeit der Mongolei im Vergleich zu anderen Staaten des sozialistischen Lagers durch Qualität hervorstachen und sich durch Farbenschönheit und -tiefe auszeichneten.

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V

Ich rannte, nein, ich flüchtete Hals über Kopf vor der mich verfolgenden Bande von Jura Butusow und musste verzweifelt einsehen, dass es keine Chance auf Rettung gab. Nachdem ich mich durch vereinzelte Grüppchen von Mitschülern, die in die Pause stürmten, hindurchgearbeitet hatte, stürzte ich in den Schulgarten, in der Hoffnung, den Zaun an seinem Ende zu erreichen. Ich holperte über Blumenbeete, fegte Gurken- und Tomatensträucher, die wir mit unserer Botanikerin gepflanzt hatten, hinweg, und war schon kurz vor den Apfelbäumen, wo ich hätte untertauchen können, doch dann blieb ich mit dem Fuß an einer aus dem Erdboden vorspringenden Wurzel hängen, klatschte auf den Boden und stieß dabei mit dem Kopf gegen die Wand eines Gewächshauses. Mein Ranzen fiel runter und daraus meine schlichten Schulsachen samt eines illegal mitgenommenen Bandes von Conan Doyle. Mein Vater hatte es nicht gern, wenn man Bücher von zu Hause mitnahm. Bücher aus unserer relativ großen Bibliothek, die er zum Lesen weggab, wurden von ihm in ein Heft eingetragen, wo vermerkt wurde, wer was und wann bekommen hatte. Überdies nahmen uns unsere Lehrer die außerschulische Lektüre prinzipiell ab und gaben sie ausschließlich an die Eltern des Verstoßers zurück, was wiederum Unannehmlichkeiten nach sich zog. Unter dem Gewächshaus liegend, schaufelte ich mit verkrampften Fingern Bücher, Hefte und andere Utensilien zusammen mit Erdklümpchen in den Ranzen, und hörte dabei, wie meine außer Atem geratenen Verfolger sich etwas zuriefen, um ihr Vorgehen zu koordinieren.

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