Hüben wie drüben
Lustige und weniger lustige Kleingeschichten
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Isilkul I-V
I
Mir dünkt, dass Gott sich in einem Zustand des äußersten Kräfteverfalls befand, als er das Fleckchen Erde erschuf, wo ich das Unglück hatte, auf die Welt zu kommen. Am Ende des sechsten Tages muss er sich wohl an irgendwelche Mängel erinnert und sich doch noch einmal auf die Arbeit gestürzt haben, um sie zu beseitigen – doch da brach der siebte Tag an, der leider schon als Ruhetag vorgesehen war – und unser Landesteil blieb für immer unvollendet.
Sehen Sie selbst: eine Steppe, flach wie der Boden eines Kochtopfes, hier und da lichte Birkenhaine, gnadenlos kalte Winter und kühle Sommerzeiten – das ist das Bild von unserem Westsibirien.
Auf die Frage, wo ich geboren bin, antworte ich stets stolz „In Sibirien“.
- Oooh, - schüttelten meine Moskauer Freunde ehrfürchtig mit den Köpfen, - die Taiga, wilde Bären… Was hast du für ein Glück gehabt, in diese Schönheit hineingeboren zu werden. Und wir müssen uns hier in Moskau mit der Urbanisierung herumquälen…
- Hört mir bloß auf mit der Schönheit, - antwortete ich, wissend, dass es mir nicht gelingen würde, jemanden zu überzeugen. – Ich habe weder die Taiga noch wilde Bären gesehen, und was die Urbanisierung betrifft, so hätte man gerne etwas mehr davon in dieser ödnis.
Bei uns zu Hause, im Wohnzimmer, hing ein Bild, das ich bis heute vor meinen Augen habe. Ich glaube, dass Gott diese Landschaft an einem der ersten Tage geschafft haben muss, nach einer munteren Gymnastikrunde und einem Tässchen Kaffee: im Vordergrund – ein Baum mit einer gewaltigen Laubkrone; hinter dem Baum rieselt dem Betrachter friedlich ein Bächlein entgegen, das sich anschickt, die Bildfläche am unteren linken Rande der Berahmung zu verlassen; ein Großteil der Leinwand wird von einem Getreidefeld beherrscht, hinter dem Feld leuchten Hügel in sanftem Grün und der Hintergrund wird von schneebedeckten Berggipfeln gekrönt.
Manchmal träumte ich sogar von diesem Bild: das Bächlein schwappte über den Bildrahmen, floss dann auf die Wand, von da aus über das Fensterbrett in den Hühnerpferch, wohin die Fenster des Wohnzimmers schauten und verwandelte sich, die Freiheit erlangt, in einen Strom, der sich nicht mehr aufhalten ließ und in der Ferne hinter den Nachbarsgärten aus den Augen verschwand. Ich sprang auf das Fensterbrett, tauchte mit freudigem Gekreische in das kühle Nass, verfolgte riesige Fische, packte sie an den Schwänzen und warf sie ans Ufer in der Vorfreude eines leckeren Abendmahls. Manchmal war das Wasser, in das ich sprang, zu meiner Verwunderung nicht kalt, sondern heiß und ich wachte plötzlich in einem nassen Bett auf. Vor Scham schwitzend, begab ich mich nachts auf den Dachspeicher, wo ich das nasse Lacken versteckte, in der Hoffnung, dass meine Mutter den vorübergehenden Verlust nicht bemerken würde.
Jeden Tag bewunderte ich dieses Meisterwerk der Landschaftsmalerei, mich des öfteren fragend: „Kann es irgendwo auf der Welt so eine Schönheit geben und wenn ja, wieso musste ich dann ausgerechnet hier zur Welt kommen und nicht dort?“ Manchmal ließ das Ungerechtigkeitsgefühl nach, zumal wir alle wie Bandwürmer eine grenzenlose Heimatliebe empfanden, egal wie abstoßend und stinkig diese Heimat zuweilen war.
Man konnte sich auch damit trösten, dass die Unauffälligkeit unserer Naturbeschaffenheit unstrittige Vorteile im Vergleich mit anderen, auf den ersten Blick üppiger ausgestatteten Orten, vorweisen konnte: wir hatten keine natürlichen Gewässer, also wurden wir nicht von Überschwemmungen bedroht; es gab keine Berge, also musste man keine Furcht vor Erdbeben haben; es gab bei uns keine Schlangen – also gab es auch keine Schlangenbisse und so weiter. Wenn wir von irgendwelchen kleineren Unannehmlichkeiten heimgesucht wurden, so war deren Ursprung handgemacht: die kasachischen Atombombentestgelände waren nicht allzu weit entfernt, so dass mit dem warmen südlichen Wind auch uns in den 50er und 60er Jahren Teilchen des wissenschaftlichen Fortschritts erreichten. Um die Ergiebigkeit unserer Felder zu erhöhen, wurden sie mit Stäubeschwefel, Parisergrün und anderen Insektiziden besprüht, die von primitiven Flugzeugen aus Furnierholz befördert wurden. Diese Flugzeuge wurden allgemein „Kukurusniki“ genannt, was man als „Maisflieger“ übersetzten könnte.
Diesen Namen hatten sie Nikita Chruschtschow zu verdanken, der von der Idee besessen war, Amerika bei der Produktion von Fleisch, Milch und Butter pro Einwohnerkopf ein- und zu überholen und der nicht hinnehmen konnte, dass das fortschrittlichste Land der Welt, zumindest in ideologischer Hinsicht, den „Haien des Raubkapitalismus“ in so einer schlichten Branche wie der Landwirtschaft hinterherhinkte. Nach einem Besuch in den USA war er zu dem Schluss gekommen, dass man Amerika nur mit seinen eigenen Waffen schlagen könnte: die unendlichen Maisfelder hatten es ihm angetan. Nikita Sergejewitsch wurde zum glühenden Verfechter des Maisanbaus in der UdSSR – von Kasachstan bis hin zum Pazifik. Schon bald waren die Felder für den Maisanbau sogar in den nördlichen Regionen des Landes umgepflügt: auf der Halbinsel Chukotka, im Gebiet Archangelsk und sogar in Jakutien – keiner der lokalen Parteibonzen konnte den Aufruf des geliebten und gefürchteten Parteiführers ignorieren!
Nikita liebte seinen Mais inbrünstig: er pries dieses Gewächs, das einen für Mensch und Tier schmackhaften Kolben schenkte und dazu noch einen langen Stängel, der als Tierfutter diente, in höchsten Tönen. Während einer Propagandaschau, die der „Königin der Felder“ gewidmet war, wurde Chruschtschow sogar poetisch, als er, die frischen Triebe mit Wasser besprühend, kundtat:
„Der Mais werde der Felder Herr,
auf dem ganzen Gebiet der UdSSR.“
Die Fotografen machten ihre Fotos, die Journalisten notierten den neuen Aufruf in ihre Notizbücher, die Parteifunktionäre eilten fort, um alles umzusetzen, doch das Wunder blieb aus – im Gegenteil, es gelang nicht mal, Amerika einzuholen, geschweige denn, zu überholen, und in so mancher Hinsicht wurde die Rückständigkeit sogar noch größer.
Die unbeholfene Reimerei Chruschtschows wurde von den auf Abruf bereiten Dichtern, die jeden Flügelschlag der neuen Zeit inbrünstig besangen, auf eine professionelle Basis gestellt. Einer von ihnen, der „ewige Komsomolze“ Alexander Besymenski ließ Folgendes verlauten:
„Auch meine Muse steht parat
und lässt es lebensfroh erklingen,
dass sie - O Mais, schönste Saat!
Die Ehre hat, dich zu besingen!“
Rein zufällig, ohne jeden Anlass, nahm ich neulich einen Band mit Majakowskis Gedichten vom Regal. Zu meinem Staunen stieß ich auf den Namen Besymenski gleich zwei Mal in den Gedichten von Majakowski. Aus dem Gedicht anlässlich des Puschkinjubiläums:
… Dichter
sollten auch
im Leben Könner sein.
Wir sind stark,
wie Alkohol aus der Karaffe.
Und was ist mit Besymenski?!
Na...
rein gar nichts...
Möhrenkaffee.
Im Sendschreiben an die proletarischen Dichter wendet sich Majakowski gleich an drei Dichterkollegen:
Genossen,
darf ich
ohne Gehabe,
maskenfrei -
wie ein älterer Kumpel,
freundlich und ohne zu unken,
mich mit euch unterhalten,
Genosse Besymenski,
Genosse Swetlow,
Genosse Utkin.
Wir streiten,
die Kehlen lechzen nach Luft,
wir
ringen nach Atem nach Kleinkunstsiegen,
aber ich habe, Genossen,
eine tolle Geschäftsidee:
lasst uns
ein fröhliches Fest
hinkriegen!
Das Majakowski seine Brüder in Apoll nicht ernst nahm steht fest, es ist aber ungerecht und schmerzhaft, dass sie, von höchster Stelle gehätschelt und getätschelt, noch lange nach seinem Freitod 1930 lebten und gediehen.
Also, die Maisflieger schwebten über unseren Köpfen und diese ekelhaften Substanzen ließen sich je nach Windrichtung, Geschick und Gewissenhaftigkeit der Piloten auf die Erde nieder. Des Öfteren fiel auch über unserem Städtchen Isilkul ein leichter Regen aus farblosen Tröpfchen auf die wenigen Passanten, die seine Herkunft erahnten, ohne sich allzu sehr darüber aufzuregen. Aber wir Lausbuben freuten uns außerordentlich beim Anblick der vorbei fliegenden Flugzeuge – immerhin war das eine willkommene Abwechslung in unserem eintönigen Leben.
Der Kampf mit den Schädlingen verlief äußerst erfolgreich: schon bald waren die Gärten und Felder von bunten Schmetterlingen und glupschäugigen Libellen befreit; wir wurden nicht mehr von den Honig bringenden Bienen und grausamen sibirischen Wespen gestochen; leere Streichholzschachteln fanden keine Verwendung mehr, da Käfer und Grashüpfer sich ganz rar gemacht hatten. Nach den Insekten verschwanden auch die meisten Singvögel: im Winter mieden die Dompfaffe mit ihren prahlerisch roten Brustpartien, die früher wie Äpfel an kahlen Ästen hingen, unsere Gegend; ab und zu tauchten Meisen auf, die lebhaft Speckstückchen aus den Futterkrippen holten. Im Sommer sah die Lage nicht besser aus: in der Stadt gab es fast keine Vögel, lediglich in den Dörfern konnte man noch auf Schwalben treffen und manchmal hingen die Lerchen am Himmel über den Feldern und unterstützten mit ihrem Gesang fleißige wie auch weniger fleißige Kolchosbauern. Wohl fühlten sich nur die allgegenwärtigen Spatzen, die geschwätzigen Elstern und betonschnabeligen Krähen, die sich mit beneidenswerter Beständigkeit vermehrten.
Nach den Vögeln verschwanden in den Wäldern auch die Tiere. Im Sommer fuhren wir oft in die Wälder zum Walderdbeerensammeln – die Stille, die dort herrschte, war unerträglich. Ab und zu setzte man auf „Radio Omsk“ sogar die Bevölkerung über Regionen, die besprüht werden sollten, in Kenntnis und warnte vor dem Pilze- und Beerensammeln. Die Lage änderte sich erst gegen Ende der 70er Jahre, als das gedankelose Umpflügen buchstäblich jeden Fleckchens Erde und das giftige Besprühen aus der Luft ein Ende nahm. Es grenzte an ein Wunder, aber nach ein paar Jahren war das Leben in die Wälder zurückgekehrt: man konnte dort wieder Igel, Füchse und Vögel antreffen und es gab Gerüchte, dass in der Umgebung von Omsk sogar Elche unterwegs waren.
Der endgültige Sieg über das Schädlingsviech und die damit verbundenen Hoffnungen auf fette Fruchtfelder haben sich nicht erfüllt: Überfluss hat sich bei uns nicht eingestellt. Das Anstehen nach Brot, das uns das Leben schon früher schwer genug gemacht hatte, dauerte noch länger, und Mehl war zur Mangelware geworden. Gerüchte über eine anstehende Mehllieferung in das örtliche Lebensmittelgeschäft - ein Ereignis von großer Bedeutung - erreichten sofort die abgelegensten Eckchen der kleinen Stadt. Kaum wanderte der letzte Mehlsack vom Laster in den Nebenraum des Kiosks, der sich an das Lebensmittelgeschäft schmiegte, strömten die mit ihren riesigen Pobacken die ausgeblichenen ärmellosen Kattunkleider wiederkäuenden Isilkuler Matronen dort hin. Lärmend und gackernd bildeten sie eine Schlange, und Sonnenblumenkerne knackend tauschten sie Neuigkeiten und Artikel aus der Zeitschrift „Die Arbeiterin“ aus. Sie schimpften über das Wetter und ließen kein gutes Haar an der Obrigkeit, dem Geschäftsleiter und dessen gieriger Frau; auch der vorbeieilende Pope bekam sein Fett ab – er wurde verdächtigt Kerzen zu klauen und galt als ungläubig.
Bald lief der Mehlverkauf an, an dem wir, die Isilkuler Lausbuben, eine wichtige Rolle spielten. Während wir uns in den Sommerferien auf den Straßen unseres Städtchens auf der Suche nach Abenteuern herumtrieben - zu denen die Beobachtung von Deckungsversuchen von Hunden und Katzen gehörten, das Aufeinanderhetzen von streunenden Kötern, die Überprüfung des Reifezustandes von Obst und Gemüse in fremden Gärten und das Vortragen von Spottgesängen auf die trottelige Valja, Valja-Balalaika, wie wir sie nannten, die dafür bekannt war, betrunkenen Freiern beim Druckabbau im Lendenbereich behilflich zu sein – waren wir die Ersten, die von der Mehllieferung Wind bekamen und sofort Gefechtsstellung bezogen. Die Sache sah folgendermaßen aus: Mehl durfte man nur in begrenzter Menge kaufen – so und soviel Kilo pro Person. Um an mehr Mehl zu kommen, teilten die Tanten aus der Schlange uns unter sich auf, denn für jedes mitgebrachte Kind bekamen sie einen vollwertigen Anteil; so rissen die Frauen manchmal so viel an sich, dass wir ihnen sogar helfen mussten, den Einkauf nach Hause zu tragen. Bald wurde der Kiosk von einer Menge kinderreicher Frauen umzingelt. Nach dem erfolgten Einkauf bekamen wir 15 Kopeken für Eis und stellten uns am Ende der Schlange bei der nächsten „Mutter“ an. Niemand beobachtete uns, aber wir änderten für alle Fälle die Zusammensetzung der „Brüder“ und „Schwestern“ ständig, damit der Betrug nicht auffallen konnte. Gegen Mittag, als die Ware knapp wurde, wurden die Tanten unruhig und gingen auf einander los:
- Hör mal, Ninka, was machst du denn wieder hier? Du hast doch eben erst eingekauft! – regten sich die Neuankömmlinge auf.
- Na die hat das Mehl zu ihrem Schwager gebracht, der wohnt ja hier um die Ecke! – berichtete jemand aus der Schlange.
- So ein Luder! – reagierten die anderen empört.
- Die hat auch noch einen Haufen Jungs mitgebracht.
- Und ihr habt niemanden mitgebracht? - gab Ninka schroff zurück.
- Aber nicht so, wie du – gleich fünf Stück.
- Weil euch das Geld für die Jungs zu schade ist – was kann ich dafür?
Das Wortgefecht entwickelte sich allmählich zu einer Rauferei und die von der Mittagshitze ermatteten Körper knäuelten sich schnaufend und keuchend auf dem Kioskvorplatz.
Und wir – wir waren mit von Unmengen von Eis aufgeblähten Bäuchen und dem Rest des Kleingeldes in den Taschen klimpernd schon wieder auf der Suche nach neuen Abenteuern unterwegs.
II
Es ist schon eine seltsame Gegend, in der wir aufgewachsen sind. Lange konnte ich die Existenzberechtigung solcher Orte wie die Stadt Isilkul nicht nachvollziehen. In den Dörfern, ist klar – da leben Bauern, in den Städten – Stadtbewohner. Aber unsere Stadt – das war doch zum Piepen, das war ja nicht mehr als eine Bezeichnung! Ein Haufen einstöckiger Häuser irgendwo in der Steppe, die jedes Jahr um einen weiteren Zentimeter im Boden versanken.
Anscheinend waren aber auch solche gottverlassenen Gegenden von Nutzen: unser Getreidespeicher, der die Umgebung wie der Eifelturm überragte, nahm das von den Kolchosfeldern gelieferte Korn auf, das dann auf gespenstische Weise verschwand; die Möbelfabrik sollte Möbel produziert haben, doch nie hatte jemand diese Erzeugnisse im Handel gesehen. Sie wurden wohl für den Export bestimmt oder zum Verkauf außerhalb unseres Gebiets ausgeführt; wir hatten auch ein Kugellagerwerk, dessen Zweck, so wie wir Kinder es verstanden, darin bestand, dass wir dort Kugellager klauen konnten. Das Risiko in die Hände der Werksarbeiter zu gelangen war groß, aber auch die Versuchung war riesig: aus zerschlagenen Kugellagern entwendeten wir die Metallkugeln verschiedener Größen, die wir als Bomben und Artilleriegeschosse für unsere Spielzeugarmeen verwendeten. Außerdem hatten diese Kügelchen einen bedeutenden Vorteil hinsichtlich der Zielsicherheit und Durchschlagkraft beim Schießen mit der Schleuder. Jemand, der mit einer Metallkugel schon mal eine Krähe oder eine Elster vom Baum geholt hatte, konnte nicht mehr so tief sinken und mit Steinen schießen.
Da Isilkul eine Kreisstadt war, befanden sich hier auch verschiedene ämter: das Kreis-Parteikomitee, das Exekutivkomitee und andere Komitees, die Kreis-Gesundheits- und Handelsverwaltung, also alles, was man so zum Leben braucht. Die Zentralstraße der Stadt, die Kommunistitscheskaja (die Kommunistische) lief durch die ganze Stadt und endete kurz vor der Eisenbahnlinie. Früher hieß sie Stalinstraße und dieser Name hatte sich derart im Gedächtnis der Bewohner verankert, dass sie sie auch nach der Umbenennung Stalinka nannten.
Die Stalinka war eine aufgeschüttete, asphaltierte Straße, die die in sie mündenden Straßen erheblich überragte, für die es entweder nicht genügend Asphalt gegeben hatte oder einfach nicht bereitgestellt worden war in Anbetracht ihrer Bedeutungslosigkeit. Wir lebten in solch einer Straße und hatten die Bedeutungslosigkeit unseres Daseins ständig vor Augen – bedeutsame Menschen konnten doch nicht in bedeutungslosen Straßen leben. Dies machte sich insbesondere im Frühjahr bemerkbar, wenn die meterdicke Schneeschicht, die die Straßen und die Gärten bedeckte, anfing zu tauen.
In den 60er Jahren fiel der Schnee in unserem Teil Sibiriens, sachte ausgedrückt, üppig. Insbesondere waren die Dörfer davon betroffen, wo die Häuser nicht selten bis zum Dach unter Schnee standen. Einmal waren wir bei Verwandten in Nikolaifeld – keine Stunde Busfahrt von Isilkul entfernt - zur Silvesterfeier. Am nächsten Morgen kamen wir nicht aus der Tür – das Haus war komplett zugeweht worden. Man musste von der Windschattenseite durch das Fenster hinausklettern und einen Pfad von der Eingangstür bis zum Toilettenhäuschen freischaufeln, das resigniert auf die Befreiung von der drückenden Last wartete.
Aber! Was haben wir für Schneelabyrinthe und Eisbahnen gebaut, was für Schneeball- und Eishockeyschlachten haben wir uns geliefert! Das Vergnügen wurde nur vom Frost getrübt, der manchmal die Marke 40 Grad unter Null erreichte, aber auch darunter litten hauptsächlich die Erwachsenen, wir schafften es, auch bei diesem Wetter unseren Spaß zu haben, ungeachtet der angefrorenen Nasen und Finger.
Also, im Frühjahr fingen diese Schneemassen an zu tauen, das Tauwasser überflutete die Gärten, die Straßen und, was am schlimmsten war, die Keller. In jedem Haus gab es einen Keller, in dem Kartoffeln, Gläser mit Eingelegtem und Marmelade und andern Fressalien aufbewahrt wurden, der nun voll Wasser lief. Etwa einen Monat lang wurde jeden Abend das Wasser mit Eimern aus dem Keller geschöpft und draußen vor dem Haus in den Straßengraben gekippt – wohin denn sonst? Nachts sickerte das Wasser wieder in den Keller und dann ging alles von vorne los.
Die Straßen verwandelten sich in undurchdringbare Sümpfe, die man auch in Stiefeln nur schwer überwinden konnte. Da alle Bewohner der Seitenstraßen, die Stalinka irgendwie erreichen mussten, denn lediglich über die Stalinka konnte man eine Verbindung zur Außenwelt - Schulen, Geschäften, der Post etc. - herstellen, wurde entlang der Häuser ein Trampelpfad aus von der Winterheizsaison verbliebener Asche, Ziegelscherben, Steinen und sonstigen Abfällen gezogen. Verwendet wurde alles, was dichter war als Wasser. Diese Baumaterialien wurden mehrere Tage lang verdichtet, eingestampft, abgetrampelt und angepasst, so dass wir nach einer Woche harter Arbeit stolz über die Stalinka defilieren konnten, herablassend auf die Einwohner der Nachbarsstraßen schauend, die diesen Komfort noch nicht erreicht hatten. Zur Stalinka konnten wir nur in Stiefeln gelangen, die uns bösartig schlappernd daran erinnerten, dass der Sieg über den natürlichen Gang der Dinge von kurzer Dauer war und dass er neue Opfer fordern würde. So kam es auch: den Betriebszustand des Trampelpfads musste man täglich sichern und Asche nachfüllen, die angesichts des nahenden Endes der Heizsaison allmählich ausging; Ziegelscherben und Steine hatte keiner mehr, so dass wir öfters die Straßen auf der Suche nach Steinschutt durchstreiften.
Der etwas tiefer gelegene mittlere Teil unserer Straße verwandelte sich in einen Wasserkanal, den wir auf Flößen oder mit dem Boot unseres Nachbars, der ein Jäger war, durchfuhren. Mal wähnten wir uns dabei als Freibeuter, mal als Helden der Romane von Mayne Reid.
In unserem Städtchen gab es auch einen Marktplatz, wo einheimische und reisende Bauern mit Obst und Gemüse, Getreide und Vieh handelten; hier befanden sich auch ein Fotoatelier und ein Friseursalon, wo ich zum ersten Mal einen Boxerhaarschnitt bekam, worüber sich mein Bruder, der in Anbetracht seiner Minderjährigkeit sich mit einem Stirnhaarschnitt zufrieden geben musste, aufs äußerste aufregte.
Einen großen Eindruck machte auf die Isilkuler Lausbuben der Jäger- und Anglerladen, in dem man damals noch frei hängende Gewehre und in Holzkisten aufbewahrte Kugeln verschiedener Größe bewundern durfte. Das Schießpulver wurde einfach in Tüten aus Zeitungspapier aufgewogen und verkauft und war so frei zugänglich wie heute ein Angelhaken. An der Tür des Ladens war ein Plakat angebracht, das jedem ein Preisgeld von 50 Rubel versprach, der ein Paar Wolfsohren vorlegen würde. Zu der Zeit hielt man Wölfe für eine echte Bedrohung für die allgegenwärtigen Zweibeiner und schaurige Geschichten über deren Gefräßigkeit waren ein fester Bestandteil der abendlichen Unterhaltung der verängstigten Dörfler.
Mit Verwunderung haben wir hier auch seltsam aussehende dunkelhäutige, krummbeinige Männer gesehen, die bei beliebigem Wetter, sogar bei unerträglicher Hitze Lederstiefel und schwere gesteppte Mäntel trugen; ihre Frauen waren in grelle, mit durchlöcherten Münzen behängte Plüschjacken und bunte Röcke gekleidet und waren genauso krummbeinig. Geschäftig huschten sie hin und her, ohne sich um die Bleichgesichter um sie herum zu kümmern. Mein Vater erklärte mir, dass es Kasachen waren, die Ureinwohner dieser Gegend, von denen auch der Name unserer Stadt stammte.
Es stellte such heraus, dass Isilkul in der kasachischen Sprache „fauler Sumpf“ bedeutete. Eine nette Bescherung! Und dabei klingt der Name des Sees Issykkul in Kirgisien fast genau so, heißt aber – Bergsee! Bekannten, die etwas neidisch mit der Zunge schnalzten, nachdem sie erfuhren, in welch wunderbaren Gegend ich auf die Welt kam, musste ich erklären, dass ich das Licht der Welt nicht am Bergsee, sondern am faulen Sumpf erblickte.
Jahre später hat mir meine Mutter erzählt, dass Kasachen in unserer Gegend in den 30er Jahren in rauen Mengen vorkamen; sie züchteten Kamele und Pferde, verschwanden aber alle nach und nach. Kann sein, dass man ihnen das Vieh wegnehmen wollte, um die unschuldigen Viehhalter in die Kolchosen zu zwingen, so dass ihnen nichts anderes übrig blieb, als zu flüchten. Und Nomaden in den kasachischen Steppen zu stellen ist keine einfache Sache!
Davon konnte ich mich überzeugen, als ich mit meinen Eltern meine erste große Reise von Isilkul nach Almaty unternahm. Wir waren drei oder vier Tage mit dem Zug durch die Steppe unterwegs, in der es rein gar nichts gab: weder Bäume, noch Seen oder Städte. Ab und zu tauchte in der Ferne langsam ein Aul auf und verschwand dann wieder. Zuweilen flog ganz in der Nähe ein moslemischer Friedhof mit dem Halbmond auf den Lehmhäuschen an uns vorbei, wobei die Menschenleere das Ganze mit einem irrealen mystischen Schleier überzog, der eine stumpfe Unruhe hervorrief. Als nach ein paar Tagen am Horizont zweibucklige unförmige Tiere auftauchten, die sich würdevoll über den Boden bewegten, kannte mein Erstaunen keine Grenzen: von so viel Exotik konnte ich nicht mal träumen!
Die unmittelbare Bekanntschaft mit den Vertretern dieses Volkes habe ich gemacht, als das Haus unserer Nachbarn gegenüber von einer Kasachenfamilie gekauft wurde. In den 60er und 70er Jahren kauften immer öfter Kasachen Häuser in den Grenzgebieten zwischen Russland und Kasachstan, ohne die demografische Lage auf den angestammten russischen Territorien zu gefährden. Man muss hinzufügen, dass zu den angestammten russischen Territorien alles gehörte, wohin die Russen einmal ihren Fuß gesetzt hatten.
Da ich in der Tradition des patriotischen Internationalismus erzogen war, stürzte ich mich sofort auf die Anknüpfung von völkerverbindenden Kontakten: den Nachbarssohn, der sich als Kolja vorstellte, band ich sofort in unsere schlichten Straßenspiele ein. Engagiert nahm Kolja an verschiedenen Aktivitäten teil, aber auf seine eigene Art – es war unmöglich, ihm die Regeln dieser Spiele zu erklären. Spielten wir Räuber und Gendarm, so machte er Gefangene auf beiden Seiten, unabhängig davon, in welcher Mannschaft er gerade war. Kolja konnte nicht begreifen, dass man nur Gefangene der Gegenseite machen sollte. Spielten wir Verstecken und Kolja musste suchen, so versteckte er sich, nachdem er jemanden gefunden hatte, direkt selbst, ohne sich Gedanken über die anderen, die auf ihn an ihren geheimen Orten warteten, zu machen. Unendlich leidend hockten wir in unseren Verstecken und verdammten Koljas Schwerfälligkeit sowie unsere Fähigkeit sich so gut zu verstecken, dass man uns nicht finden konnte.
Großen Gefallen fand Kolja am Fußballspiel. Es kann gut sein, dass Kolja früher noch nie einen Ball gesehen hatte, denn die Begeisterung, mit der er hinter diesem runden Gegenstand herlief kann man nur damit erklären, dass es in dem Ort, von dem die neuen Nachbarn kamen, keine Pionierhäuser, Sommerlager und keinen Sportunterricht gab. Mit fanatisch funkelnden Augen flitze Kolja über die Straße, hetzte Hals über Kopf zum Ziel, nachdem er den Ball zugespielt bekam, uns auf das Bevorstehende aufmerksam machend: „Gleich Torl!“ Voller Begeisterung schrie er „Torl!“ wenn er einen Baum oder einen Busch traf und genauso begeistert schrie er „Ei Scheitan!“ wenn er den Ball verfehlte.
Bald aber fing seine Art Fußball zu spielen, die wir zunächst belächelten, an zu nerven: wenn Kolja nach einem Passspiel den Ball bekam, spielte er nie zurück, sondern stürmte torkelnd und hin und wieder auf den Boden stürzend auf das Tor zu, von der Idee besessen, ein Tor zu schießen – egal in welches, das eigene oder das fremde. Als ich zum wiederholten Mal beim Erklären der Fußballregeln versagt hatte, dämmerte mir, dass die Ursache dafür Koljas mangelhafte Russischkenntnisse sein könnten. Na und! Wenn der Berg nicht zum Propheten geht, dann geht der Prophet zum Berg! Ich hatte mich entschlossen, die kasachische Sprache zu lernen!
Die Verkäuferin im Buchladen starrte mich mit ihren farblosen Augen an und erklärte, dass sie noch nie von der Existenz eines russisch-kasachischen Wörterbuchs gehört hatte. Außerdem sei es völlig überflüssig, da fast alle Kasachen Russisch sprechen würden und mit denen, die es nicht tun, gäbe es nichts zu besprechen. Sie versprach jedoch, so ein Wörterbuch zu bestellen, vorausgesetzt, es gäbe so was, meinte aber, dass man nicht unbedingt mit einem Erfolg rechnen sollte.
Da Koljas Erlernen der Fußballregeln keine Verzögerung duldete, entschloss ich mich ein eigenes russisch-kasachisches Wörterbuch zusammenzustellen. Ich zog in der Mitte des Heftblatts eine senkrechte Linie, schrieb in der linken Spalte „Russische Sprache“, in der rechten „Kasachische Sprache“ und machte mich an die Arbeit. Schon der erste Buchstabe des Alphabets hat sich als eine harte Nuss erwiesen – alle Wörter mit „a“, die mir in den Sinn kamen, hörten sich irgendwie irreal an: Astrolabium, zum Beispiel, Astronomie oder Aquädukt.
Nachdem ich einsehen musste, dass ich allein das Wörterbuch nicht verfassen konnte, holte ich Kolja und erklärte ihm, dass ich im Begriff war, ein russisch-kasachisches Wörterbuch zu erstellen, das ich bräuchte, um mit ihm, Kolja, vollwertig in seiner Muttersprache zu kommunizieren.
Zu meinem Erstaunen war Kolja gar nicht damit einverstanden, sich mit mir auf Kasachisch zu verständigen. Er erklärte, dass er bereits hervorragend seine Muttersprache beherrsche und davon träume, genau so gut Russisch sprechen zu können und dass die Kommunikation mit den Russen in der kasachischen Sprache ihn in seiner intellektuellen Entwicklung lediglich zurückwerfen würde.
Ich musste meinen ganzen Charme einsetzen, um Kolja zu überreden, mich der östlichen Zivilisation näher zu bringen. Ich erzählte ihm alles, was ich über Avicenna und Alischer Navoi wusste – Kolja merkte an, dass sie für Kasachen unübliche Namen trugen; um Koljas Kampfgeist zu stärken, erwähnte ich Tamerlan und Dschingis Khan. Die Märchen über Ali Baba und Sindbad den Seefahrer hatten wohl einen großen Eindruck auf ihn gemacht: er hob die Gerissenheit und den Mut Ali Babas hervor, und über Sindbad sagte er, dass Wanderer in den unendlichen kasachischen Steppen sich genauso einsam und verlassen fühlten wie er.
Erkannt, dass Koljas Standhaftigkeit nachließ, holte ich das Trumpfas und erzählte ihm, dass auch der große kasachische Dichter Abai Kunanbajew viel für die gegenseitige Verständigung von Russen und Kasachen getan hatte; er hatte zum Beispiel Puschkin und Lermontow ins Kasachische übersetzt. Und nicht nur! Sogar den deutschen Dichter Goethe – und der war für die Deutschen das, was Puschkin für die Russen war – hatte er für die Kasachen übersetzt. Kolja kam ins Wanken, gab aber immer noch nicht nach. Das letzte Argument, dass Koljas Zweifel ausräumte, waren Mamas Milchbrötchen, die mit Mohn bestreut und mit einer Schicht Glasur aus Eiweiß und Zuckerpuder bedeckt waren. Kolja leckte sich die süße Glasur von den Lippen und ohne das vierte Milchbrötchen, das auf dem Teller lag, aus den Augen zu lassen, verkündete er, dass ich ihn über die Notwendigkeit der Zusammenstellung eines russisch-kasachischen Wörterbuchs überzeugt hätte, sozusagen im Sinne der besseren gegenseitigen Verständigung von Völkern und um das Werk des großen Abaj fortzuführen. Er stellte aber eine Bedingung: unser Werk sollte kasachisch-russisches Wörterbuch heißen, denn sonst müsste er unweigerlich an Diskriminierung denken, da die Russen immer an der ersten Stelle sein wollten. Ich zeigte mich großzügig.
Wir setzten uns am Rande des nach dem letzten Regen getrockneten Straßengrabens ins Gras, ließen die Beine baumeln und machten uns an die Arbeit.
- Kolja, - sagte ich, - wir fangen mit dem Buchstaben „A“ an. Gibt es in der kasachischen Sprache zum Beispiel das Wort „Allegro“?
- Nein, - sagte Kolja fest.
- Und Aquarium? Gibt es dieses Wort?
- Nein, - antwortete Kolja genauso fest.
- Und wo bringt ihr Kasachen denn eure Fische unter?
- Nirgendwo, - erwiderte er, über meine Begriffsstutzigkeit staunend. – Wir essen sie einfach, - fügte er mir nichts dir nichts hinzu.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Aber wie immer ich mich auch anstrengte, ich konnte mich an kein normales Wort mit „A“ erinnern.
- Na gut. Lass es uns andersrum machen. Welche Wörter der kasachischen Sprache fangen mit „A“ an?
Kolja überlegte kurz und erklärte dann, dass er sich nur an zwei Wörter erinnern konnte: Arba (Leiterwagen) und Assjol (Esel).
- Na, Arba ist klar, das kennt jeder, - stimmte ich ein. – Aber der Ossjol fängt mit dem Buchstaben „O“ an und wird lediglich mit „A“ - Assjol ausgesprochen.
- Nein, - sagte Kolja, - Assjol, das ist so ein Tier. Es hat lange Beine, einen langen Schwanz, lange Ohren. Eigentlich heißt es bei uns Jessek, aber viele nennen ihn wie die Russen Assjol.
- Du lieber Himmel, nicht Assjol, sondern Ossjol! – sagte ich.
- Das muss wohl ein anderes Tier sein, - sagte Kolja. – Dieses Tier, von dem du sprichst, schreit es „i-aaa“!? – brüllte er mir plötzlich ins Ohr.
Ich verspürte einen leichten Anfall von Rassenhass, den ich sofort unterdrückte, da ich mich beschämt an das schwere Schicksal von Onkel Tom, die Vernichtung der Amazonasindianer durch gierige Holzfäller und andere, weniger gravierende Fälle von ungerechtem Umgang der Menschen miteinander erinnern musste.
Aus unserem Leben verschwand Kolja genauso plötzlich, wie er darin auftauchte. Kann sein, dass es den ehemaligen Nomaden in unseren Isilkuler Straßen zu eng wurde, vielleicht fühlten sie sich nicht so wohl in der russischsprachigen Umgebung. Am ehesten aber konnten wohl die Eltern von Kolja das Nomadengen nicht besiegen, das sie immer weiter und weiter auf der Suche nach geräumigeren Zelten, fruchtbareren Hirtenweiden und zotteligen Kamelen trieb.
III
Was sind denn das für Zeiten! Gerade hatte ich mich auf den Weg nach draußen gemacht, um eine zu rauchen, da erinnerte ich mich daran, dass mein Sohn gleich aus der Schule kommen sollte und überlegte es mir anders. Nachdem er mich ein paar Mal mit Tränen in den Augen angefleht hat, mit dem Rauchen aufzuhören, kann ich in seiner Gegenwart nicht mehr dampfen. Es ist doch irgendwie seltsam: früher haben sich die Kinder vor ihren Eltern versteckt, um heimlich zu rauchen, und heute verstecken sich die Eltern vor ihren Kindern. Mein Sohn weiß nicht mal, an welchem Ende man die Zigarette anzündet, weiß aber, dass das Rauchen die Gesundheit schädigt und erinnert mich ständig daran. Er ist 9 Jahre alt. Als ich 9 war, hatte ich zum ersten Mal mit dem Rauchen aufgehört.
Es geschah so: ich saß auf einem Bänkchen im Hühnerpferch und zog genüsslich an einer Belomorkanal-Papirosse, die ich morgens aus der Jackettasche meines Vaters geklaut hatte, während er sich vor der Arbeit rasierte. Gleichzeitig hatte ich auch das Kleingeld, das mir in die Finger gekommen war, mitgenommen, so dass der Tag sich angenehmen gestalten ließ: ein Kinobesuch, eine Runde Schaukelschwingen im Stadtpark und eine Flasche Limo waren der Lohn für meinen frechen Diebstahl.
Die Hühner beim Scharen nach Würmern und Getreideresten im staubigen Boden betrachtend, grübelte ich über die Unbilden des Schicksals nach, träumte davon, dass es wohl toll sei, ein Vogel zu sein, aber nicht ein Huhn, sondern, sagen wir, eine Meise oder ein Star. Sofort fiel mir jedoch ein, dass unsere Mieze erfolgreich nach Meisen und Staren jagte, was diesen Gedanken dann doch unattraktiv machte.
Der Tag neigte sich dem Ende zu, aber ich war so in meine Träumereien vertieft, dass ich vergessen hatte, dass der Vater bald von der Arbeit zurückkehren musste. Als ich einen auf mich gerichteten Blick spürte, hob ich den Kopf und sah meinen Vater, der wohl den friedlich über dem Hühnerpferch aufsteigenden Rauch bemerkt hatte und mich nun von der anderen Seite des Zauns beobachtete. Ohne ein Wort zu sagen ging er zum Tor, doch ich rauchte die Papirosse in aller Ruhe zu Ende – ich war ja sowieso aufgeflogen! – und ging dann auch herein. Zu meinem Erstaunen verlief der Abend ruhig – kein Wort über die Gefahren des Rauchens, kein Levitenlesen – nichts!
Nach dem Abendbrot sagte der Vater, die Männer würden der Tradition huldigen und nach dem Essen gemeinsam eine rauchen, während der weibliche Teil der Familie das Geschirr wegräumte. Ich machte große Augen, aber der Vater erklärte, dass wir ab heute immer zusammen nach dem Abendbrot rauchen würden, zumal es viel unterhaltsamer sei, in menschlicher Gesellschaft als in der von Hühnern zu rauchen. Ich versuchte, diese Ehre zurückzuweisen und erklärte, dass ich kein eingefleischter Qualmer sei, doch der Vater ließ nicht nach. Wir hockten uns vor dem Herd auf einen Schemel, der Vater öffnete das Ofentürchen und wälzte die Kohle um, die uns aufflackernd die Hitze ins Gesicht trieb.
Damals ließen die Lebensbedingungen in der Stadt Isilkul zu wünschen übrig. Ich glaube, dass sie auch jetzt zu wünschen übrig lassen, aber damals besonders. In unserem Hause gab es einen Ofen, der nicht nur im Winter das Haus beheizte, sondern auch im Sommer in Betrieb war, um das Essen zu kochen. Ich weiß noch, wie wir die Ringe an dem Ofen wechselten, um das Feuerloch an die Pfannen und Töpfe anzupassen, wie Mama zu Hause Brot buk, das viel leckerer war, als das aus dem Geschäft.
Gasherde und Kühlschränke kamen erst Mitte der 60er Jahre zu uns und waren ein nie da gewesener Luxus: man musste nicht mehr in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett springen, die Nachtasche aus dem Ofen holen, Holz ins Haus bringen und so weiter. Als Kühlschrank diente uns ein alter Brunnen im Garten, dessen Wasser zum Trinken nicht geeignet war. Im Winter waren wir auf einen Kühlschrank nicht angewiesen – bei diesem Frost! Im Sommer wurden in einem Eimer Butter, Schmand, Wurst und andere Lebensmittel deponiert, der Eimer wurde in den Brunnen abgeseilt, wo er bis zur Hälfte im eisigen Wasser hing.
Zu schaffen machte uns das Problem mit dem Trinkwasser, das man von Pumpstationen holen musste, die nicht immer funktionierten und wenn sie es taten, dann waren sie von einer riesigen Menschenschlange umzingelt. Es wurde viel Wasser gebraucht: zum Kochen, zum Gießen, zum Waschen und auch noch auf Vorrat. Wir mussten tonnenweise das begehrte Nass nach Hause bringen – für Kinder keine leichte Aufgabe.
Am schlimmsten war es im Winter: in der ganzen Stadt, die immerhin etwa 25.000 Einwohner zählte, gab es nur vier Pumpstationen, von denen drei abwechselnd zugefroren waren. Niedergeschlagen zogen die Menschen bei minus 30 Grad durch die Stadt auf der Suche nach Wasser. Man fragte sich gegenseitig, welche der Pumpstationen noch Wasser spendete und falls man einen Tipp bekam, machte man sich auf den Weg dorthin.
Wenn behauptet wird, dass das Niveau einer Zivilisation dem Zustand der öffentlichen Toiletten entspricht, so gab es in Isilkul keine Zivilisation aufgrund der Tatsache, dass es dort keine öffentlichen Toiletten gab. Sollte aber das Niveau einer Zivilisation dem Zustand der privaten Toiletten entsprechen, so roch es hier auch nicht nach Zivilisation. Unsere Stadt bestand aus einstöckigen Häusern, die man natürlich nicht mit Häusern, sagen wir, in Deutschland vergleichen kann. Bei uns gab es keine Wasser- und Gasversorgung, es gab keine Kanalisation, keine Telefone, es gab nicht… was es bloß alles dort nicht gab!
Normalerweise diente als Toilette ein schief stehendes Häuschen irgendwo am Ende des Gartens, das den ganzen Sommer einen stechenden Gestank ausströmte; fröhlich brummten hier riesige grüne Fliegen, die mit ihrer Anwesenheit die auf dem Boden der Grube kribbelnden und krabbelnden Würmer, Maden und andere Ekelbiester unterstützten. Im Winter war der Gestank nicht so unerträglich, dafür aber wurde das ästhetische Empfinden des Toilettenbesuchers durch den Anblick einer Fäkaliensäule beleidigt, die mit der Unerbittlichkeit eines Stalagmits aus den Tiefen der Kloake hoch stieg. Man musste sie mehrmals mithilfe einer Eisenstange abbrechen. Im Frühjahr wurden die aufgetauten Toiletten auf ein ganz einfache Art entleert: mit Eimern löffelten wir diese stinkende Masse heraus und kippten sie in die Gärten aus. Es war ein doppelter Nutzen: die Toilette war entleert und der Garten gedüngt. Ein paar Tage lang hing in der Luft der unerträgliche Scheißgestank, dann aber verflüchtigte er sich bis zum nächsten Frühling.
Der Vater holte aus der Tasche ein Päckchen Belomorkanal und reichte mir eine Papirosse. Mir blieb nichts anderes übrig – gekonnt pustete ich in die leere Hälfte der Hülse, drückte das Ende der Papirosse zusammen und dann noch mal quer auf einen Fingerbreit – so machten es die Erwachsenen, und rauchte von dem Zündholz, dass mir der Vater reichte, an.
- Hör auf, Peter, - unternahm die Mutter einen Versuch, den Erziehungsprozess zu stoppen. – Er ist doch noch ein Kind!
- Ach was, der ist doch kein Kind! Er ist schon groß, er raucht Papirossen. Bald wird er Wodka trinken. Aber vielleicht trinkt er schon Wodka? – fragend starrte er mich an.
- Hör auf, was soll das mit dem Wodka! – regte sich die Mutter auf.
- Wieso denn!? Ich habe im Keller eine angebrochene Flasche „Stolitschnaja“ stehen. Gestern habe ich nachgeschaut und darin war weniger als vor ein paar Tagen. Ich habe nichts getrunken, du auch nicht und der Wodka ist weg. – Wieder starrte er mich an.
Na gut, ich war tatsächlich in den Keller gegangen, um eingelegte Äpfel zu holen. Da hatte ich zufällig auf einem Regal eine Flasche entdeckt, auf deren Etikett das Foto eines schönen mehrstöckigen Gebäudes abgebildet war mit der Kursivaufschrift „Wodka stolitschnaja“. Ja, ich konnte nicht widerstehen und hatte davon probiert. Erst gab es einen Brand im Mund, dann wurde mir warm. Heute hatte ich wieder einen Schluck genommen, aber ganz wenig, es dürfte eigentlich nicht auffallen.
- Ich trinke gar keinen Wodka! – schrie ich überzeugend schluchzend auf. – Was redet ihr da!
- Gut, gut, Wodka – das ist Zukunftsmusik. Heute rauchen wir ein wenig und gehen dann schlafen. Ja, warum ziehst du den Rauch einfach in den Mund und lässt ihn dann raus? Das ist falsch. Schau mal: du ziehst den Rauch ein und schluckst ihn, das ist die richtige Art, zu rauchen. So, eingezogen, jetzt schlucken.
- Ich kann nicht, er lässt sich nicht schlucken, - machte ich den Versuch, mich herauszuwinden, doch ohne auf Mutters Bitten zu achten ließ der Vater nicht nach. Nach zwei, drei Zügen wurde mir schwindelig, eine unvorstellbare Schwere drückte mich nach unten und ich glitt vom Hocker auf den Boden.
- Was hast du gemacht!? – schrie die Mutter auf, packte mich und brachte ins Bett.
Was genau der Vater gemacht hat, weiß ich nicht, aber nach diesem Vorfall habe ich mindestens zehn Jahre lang keine Zigarette mehr angerührt.
IV
Die internationale Bühne betrat unser Isilkul Ende der 60-er Jahre, als die besten Söhne der Mongolischen Volksrepublik zur Ausbildung an der Isilkuler Fachschule für Landwirtschaft abkommandiert wurden. Die ausländischen Gäste waren kleinwüchsig, zeichneten sich durch ausgesprochene Freundlichkeit aus, waren bestrebt, sich unauffällig zu verhalten, und wenn man bedenkt, dass sie den Kasachen, die in unsere Stadt zu Samstagsmärkten einkehrten, sehr ähnlich sahen, und wenn sie nicht in ganzen Kolonnen in die Banja (russisches Dampfbad) gegangen wären, wäre ihre Anwesenheit in unserem verschlafenen Städtchen völlig unbemerkt geblieben. Schon bald hatten wir uns an sie gewöhnt und gafften ihnen nicht mehr mit geöffneten Mündern nach, während die Gerissensten unter uns mit den Mongolen sogar Handelsbeziehungen knüpften.
Besonders beliebt waren Pelz- und Lederwaren der mongolischen Gerber und ausländische Zigaretten, während Münzen- und Briefmarkensammler ihre Sammlungen durch nie dagewesene Stücke komplettierten, die, in Anbetracht der offensichtlichen Rückständigkeit der Mongolei im Vergleich zu anderen Staaten des sozialistischen Lagers durch Qualität hervorstachen und sich durch Farbenschönheit und -tiefe auszeichneten.
Die Ankunft der Mongolen in Isilkul wurde zur Sternstunde für Valja-Balalaika, die plötzlich zu einem verführerischen Weibchen mutierte, das von einer Horde hungriger Männchen begehrt wurde. Valja wurde auf eine gewisse Art sogar hübsch: ihr Schafsgesicht war künstlich gerötet, die sinnlich vorragenden Lippen grell geschminkt, das Haar nach hinten gekämmt – wie eines dieser Weiber des Malers Kustodijew. Die flachgesichtigen Liebhaber weiblicher Reize folgten Valja auf Schritt und Tritt, die es in Anbetracht so einer Großzahl von Verehrern zustande brachte, sogar unter ihrer dicken Kosmetikschicht rot zu werden. Die Treffen von Valja-Balalaika und ihren Liebhabern fanden in der städtischen Baumschule statt, in der wir Jungs uns wie in unseren eigenen Gärten auskannten.
Das sehnsüchtige Verlangen, heimlich den Koitus zu beobachten, und zwar in freier Natur, gab uns keine Ruhe. Die Kühnsten unter uns behaupteten, dass man sich im Schutze der Bäume und Sträucher auf eine Entfernung nähern könnte, die es erlauben würde, alles zu sehen, doch waren unsere Träume von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Bereits beim Eintreffen auf dem Terrain der Baumschule konnten wir die in einer Reihe stehenden und sich in Kampfform bringenden Sperminatoren sehen. Es konnte keine Rede davon sein, sich unbemerkt heranzuschleichen, und noch weniger, die Mongolen zu bitten, zuschauen zu dürfen, trauten wir uns nicht.
Tatsache ist, dass Isilkul eine Umschlagstelle der Transsibirischen Eisenbahn war, die den Südural mit Wladiwostok verband und deren Bau im Jahr 1891 begann. Und 1895 entstand die Siedlung Isilkul, die mit der Zeit zu einem wichtigen Eisenbahnknoten heranwuchs, wo Züge umrangiert, Güter umgeladen wurden, wo Fernzüge anhielten und Pendlerzüge, die Isilkul mit den naheliegenden Städten und Dörfern verbanden, hin und her huschten.
Eines Tages wurde ich, in Erwartung des Pendlerzugs nach Omsk, erneut Zeuge der globalen Bedeutung unseres Städtchens. Die Station beschlich ein meilenlanger Zug, in dem man Menschen, aber auch Tiere transportierte, voller schlechtzähniger Vietnamesen. Ob sie nun vom Westen in den Osten fuhren, das heißt, ob sie auf dem Weg in ihre Heimat waren oder aus dem Osten in den Westen zum Zwecke der Instruierung transportiert wurden, weiß ich nicht mehr, auf jeden Fall hatten sie in Isilkul Halt gemacht.
Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Bremsen quietschend hielt der Zug langsam an, die riesigen Türen öffneten sich und in den Türlichten erschienen fröhlich lächelnde Flachgesichter. Die Vietnamesen verließen die Waggons nicht, sie schauten sich aber neugierig um und deuteten mit ihren Händen auf etwas Sehenswertes hinter meinem Rücken. Ich drehte mich um, konnte aber nichts Besonderes entdecken: ein kleiner Platz vor dem Bahnhof und das Bahnhofgebäude, das war alles.
Da öffnete sich die Tür des Bahnhofsrestaurants und heraus kamen zwei angetrunkene Männer. Sie fassten sich an den Händen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und scharrend und torkelnd steuerten sie auf den Bahnsteig los, mit unverhohlenem Staunen die fremdartigen Gesichter anstarrend. Nachdem sie den Bahnsteig erreicht hatten, versuchten die Männer lange den ganzen Zug, der sich bis zum Horizont zu beiden Seiten der Station ausdehnte, zu überblicken, ohne auf die Passagiere zu achten. Wankend standen sie vor einem geöffneten Waggon.
- Nee, Toljan, siehst du, was es für lange Züge gibt?
- Unglaublich.
- Interessant, wer sind denn die? Wo werden die wohl hingebracht?
Hin und her wankend hielt sich Toljan, der etwas größer war, fest am Ärmel des Sakkos seines standsichereren Freundes, das schon bessere Zeiten erlebt haben musste, und versuchte unauffällig sein Hicksen zu unterdrücken.
- Lass uns mal nachfragen... Wer seid ihr? Vietnamesen, oder? – fragte Toljan, hickste und fügte hinzu, sich an seinen Freund wendend, - Dieses Miststück Nadja, was für eine Kacke schüttet die uns ein, ich kotze denen gleich in die Fresse.
- He, reiß dich zusammen, Kumpel, was soll das! Das wäre doch ein internationales Eklat. Da kommen schon die Bullen!
- Ich reiß mich schon zusammen, - hickste Toljan zurück. – Na, seid ihr Vietnamesen?
- Vietnamessa, vietnamessa, - lächelte der Waggon fröhlich und wedelte freundlich mit den Armen.
- Prachtkerle! – rief der Freund aus. – Hast du verstanden, Toljan, das sind Vietnamesen!
- Ich habe das sofort gesehen, - gab der zurück. – Ihr seid Prachtkerle, macht diese Scheißamerikaner fertig. Scheiße, ich würde selbst hinfahren...
- Ach, lass das, wo willst du denn hinfahren? – äußerte der andere seine Zweifel, - Du bist mir auch ein Haudegen.
- Wieso denn? Ich kann auch herumballern. Aber ohne uns hättet ihr einen Scheiß machen können, nicht wahr? – Toljan wankte kurz und drückte den Abzug einer imaginären Maschinenpistole. – Ta-ta-ta-ta-ta-ta...
- Plachtkele, Plachtkele, - lächelte der Waggon zurück.
- Einen Scheiß verstehen die, - gab sich Toljan enttäuscht. – Klar, Prachtkerle, Prachtkerle seid ihr. Aber ich sage, dass ihr ohne uns keinen Scheißkrieg führen könntet, klar?
- Klal, klal, - nickte der Waggon zustimmend.
- Was ist euch denn klal? – mischte sich der andere, der kleinere ein. – Gar nichts ist euch klar. Toljan sagt, dass wir euch h-e-l-f-e-n.
- Ach egal,- unterbrach ihn Toljan. – Sagt mal, wir, die Russen, - er schlug mit der Faust gegen seine Brust, - wer sind wir für euch?
- Ältelel Bludel, ältelel Bludel, lussiss gut! – gab der Waggon freundlich zurück.
- Das verstehe ich, siehst du, Toljan?
– Richtig: der ältere Bruder! Und vergesst das nie! – Toljan hickste erneut. – Was sind das für Fratzen! Die können mich am Arsch lecken, diese jüngeren Brüder.
- Sag so was nicht, - erwiderte Toljans Freund, woraufhin die beiden ohne die geringste Notiz mehr von den Vietnamesen zu nehmen nun ein Gespräch über die Bedeutsamkeit von Verwandtschaftsbeziehungen anfingen; eine Tanjka wurde erwähnt, die sich weigerte, die Kuh zu melken, obwohl die Schwiegermutter sie darum gebeten hatte, sondern im Gegenteil erklärte, sie sei keine Magd. Und Tanjkas Ehemann, der, statt seiner Mutter beizustehen, Tanjka unterstützte, die nun jeden Anstand verloren hatte und darauf bestand, eine Hälfte des Schweins, das im Herbst geschlachtet werden sollte, zu ihren Verwandten ins Dorf zu schicken. Und was waren das für Verwandte!? Das war doch lächerlich...
Nachdem sie sich eine Weile so unterhalten hatten, begaben sich Toljan und sein Freund wieder ins Restaurant, um die vietnamesisch-sowjetische Freundschaft zu feiern, die Gläser auf die Niederlage des amerikanischen Imperialismus zu heben, um auf die Wiederherstellung der Ehre der Schwiegermutter, die von Tanjka gedemütigt wurde, anzustoßen und letztendlich, um einfach einen gelungenen Tag zu begießen.
Unsere Eisenbahn war auch eine Art Grenze, die das Hintereisenbahnland, das Berjosowka (Birkenfeld) hieß, von dem Rest Isilkuls teilte und zwar nicht nur geographisch, sondern auch im kulturellen Sinne.
Auf jeden Fall genossen die „Berjosowskie“ großen Respekt seitens des Isilkuler Packs, das in Gebieten hauste, die aussagekräftigere Namen trugen: „Schanghai“, „Sobatschowka“ (Hundedorf), „Nachalowka“ (Frechdorf). Soweit ich mich erinnern kann, hieß unser Bezirk „Nachalowka“, wobei der Wohnort keine Bedeutung hatte – es war generell nicht empfehlenswert, sein eigenes Territorium zu verlassen. Zwar wurden wir auch von den Unsrigen regelmäßig verdroschen, aber wenn man zufällig ein fremdes Territorium betrat, konnte man durchaus auch als Krüppel enden.
Die „Berjosowskie“ also waren durch ihre besondere Kampfkraft, Grausamkeit und Organisiertheit bekannt, was ihnen ermöglichte, echte Gefechtseinheiten zu bilden, mit denen sich das ungeordnete Heer der Soldateska aus anderen Bezirken nicht messen konnte. Nur ein Todeskandidat wäre freiwillig über den Viadukt über der Eisenbahn auf die andere Seite gegangen – das war zwar auch tagsüber gefährlich, nachts aber konnte es tödlich enden.
Einmal begleitete ich nach einem Tanzabend ein Mädchen nach Hause und war sehr betrübt, als sie mir verriet, dass sie aus Berjosowka kam. Das hieß, dass ich, um sie nach Hause zu bringen, die Grenze über den Viadukt überqueren musste, und die Brücke genoss schon seit längerem einen schlechten Ruf unter den Isilkulern: dort gab es ständig Ärger. Mal wurde einem das Geld weggenommen, mal wurde einem die Kleidung ausgezogen oder man wurde einfach verprügelt. In der letzten Zeit gab es sogar Gerüchte, dass die Berjosowskie ihre ordinären Raubzüge ästhetisch aufgepeppt hätten: Fußgänger trafen nachts auf ein einsames Mädchen auf der Brücke, das ihnen langsam entgegen kam. Nah genug angekommen, riss es ihren Mantel auf, der ihr einziges Kleidungsstück war, und zeigte dem verblüfften Zuschauer ihren nackten Körper. Eine Zeitlang durfte der Nachtgänger ihre Nacktheit genießen, dann schlug sie den Mantel zu und ging weiter. Auf der anderen Seite der Brücke angekommen, wurde der unfreiwillige Zuschauer von einer Gruppe kräftig gebauter Jungs eingekreist und höflich darum gebeten, die Vorstellung zu bezahlen.
- Na, haben Sie das Theaterstück gesehen?
- Welches Theaterstück?
- Na da oben.
- Aaaa, habe ich.
- Na los, zahlen!
Es hat sich nie jemand geweigert.
Wir näherten uns dem Viadukt.
- Hör mal, Andrej, du gefällst mir so, wie du bist,- sagte sie sanft, - du musst mich nicht nach Hause begleiten. Solange ich bei dir bin, hast du nichts zu befürchten, aber sobald du alleine bist, ist das dein Ende.
- Schon gut, ich komme durch, es wird nichts passieren, - erwiderte ich. „Verfluchter Gentleman, du“ – schoss es mir durch den Kopf, doch es gab kein Zurück.
- Ich bitte dich, Andrej, geh' nicht, du kommst da nicht raus, - wiederholte sie, doch ich hatte bereits meine Entscheidung getroffen.
Torkelnd zogen wir durch die unbeleuchteten Straßen und ertasteten auf Geratewohl den festen Boden unter unseren Füßen.
- Wie kommt ihr hier bloß durch? – hielt ich es nicht aus, - Man kann sich hier die Beine brechen.
- Macht nichts, man gewöhnt sich daran, - antwortete das Mädchen, - mit der Zeit kann man im Dunklen sehen.
Ich brachte sie nach Hause, widerstand tapfer ihrem Vorschlag, bei ihr zu übernachten – „es ist nicht schlimm, meine Mutter ist zu Hause, sie wird aber nichts mitbekommen“ – und machte mich auf den Rückweg.
Während ich zurück trabte und mich abmühte, lautlos zu gehen und vorsichtig die unausweichlichen Pfützen zu überspringen, wurde es etwas heller. Die Sterne waren durch die Wolken vorgedrungen und blinzelten mir verschwörerisch zu, meinem Spaziergang ein gutes Ende beschwörend. Ich hatte in der Tat meine Haltung gelockert – „das sind doch keine Dummköpfe, die werden sich doch nicht in der Nacht herumtreiben“ und legte putzmunter einen Zahn zu, als ich plötzlich einen Räuberpfiff und einen Zuruf vernahm:
- Hey! Wer ist da?
Sofort tauchten aus der Dunkelheit zwei Gestalten auf, die fehlerfrei meine Position bestimmten. Mein Herz stürzte plötzlich herab, verpasste dem Magen einen schmerzhaften Schlag, streifte seitlich das Steißbein und rutschte in die Hosenbeine, die jeden Augenblick nass werden konnten.
- Komm mal mit!
Gehorsam den leichten Schubsern folgend begab ich mich zu dem hinter einer Palisade versteckten Haus, vor dem auf einer Bank ein paar weitere Jungs saßen.
- Wer bist du? – fragte ein kräftig gebauter Bursche in einem Seemannshemd, der in der Mitte saß. – Was machst du hier?
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, doch durch meine Erfahrung war mir bekannt, dass die Antwort keine Bedeutung hatte, meine Chancen standen ganz schlecht.
- Aaaa, Sergej, ich kenne ihn,- meldete sich einer aus der Gruppe, - das ist Andrej, na, dieser Gitarrist aus der Band.
- Sicher? - fragte Sergej.
- Sicher, - antwortete der andere.
- Na gut, - vermutlich war Sergej nicht allzu kampflustig gestimmt, - was ist, Andrej, singst du uns ein paar Lieder? Bringt mal die Gitarre, Jungs!
Natürlich, liebe Genossen, gar keine Frage, natürlich werde ich singen und wie! Ich glaube, dass ich noch nie so beseelt vokale Exerzitien zum Besten gab. Wie ich „Yesterday“ und die russische Romanzen gesungen habe! Und obwohl mein Repertoire bezüglich der Bänkellieder zu wünschen übrig ließ, strengte ich mich an und sang auch eins davon, was meine Zuhörer endgültig überwältigte.
Nachdem ich von ihnen bis zur Eisenbahn begleitet worden war, ließen sie mich wissen, dass ihre Zuständigkeit hier enden würde und ich den Rest alleine schaffen müsste. Ohne weitere Abenteuer kam ich zu Hause an, doch in Berjosowka bin ich nie wieder gewesen!
V
Ich rannte, nein, ich flüchtete Hals über Kopf vor der mich verfolgenden Bande von Jura Butusow und musste verzweifelt einsehen, dass es keine Chance auf Rettung gab. Nachdem ich mich durch vereinzelte Grüppchen von Mitschülern, die in die Pause stürmten, hindurchgearbeitet hatte, stürzte ich in den Schulgarten, in der Hoffnung, den Zaun an seinem Ende zu erreichen. Ich holperte über Blumenbeete, fegte Gurken- und Tomatensträucher, die wir mit unserer Botanikerin gepflanzt hatten, hinweg, und war schon kurz vor den Apfelbäumen, wo ich hätte untertauchen können, doch dann blieb ich mit dem Fuß an einer aus dem Erdboden vorspringenden Wurzel hängen, klatschte auf den Boden und stieß dabei mit dem Kopf gegen die Wand eines Gewächshauses. Mein Ranzen fiel runter und daraus meine schlichten Schulsachen samt eines illegal mitgenommenen Bandes von Conan Doyle. Mein Vater hatte es nicht gern, wenn man Bücher von zu Hause mitnahm. Bücher aus unserer relativ großen Bibliothek, die er zum Lesen weggab, wurden von ihm in ein Heft eingetragen, wo vermerkt wurde, wer was und wann bekommen hatte. Überdies nahmen uns unsere Lehrer die außerschulische Lektüre prinzipiell ab und gaben sie ausschließlich an die Eltern des Verstoßers zurück, was wiederum Unannehmlichkeiten nach sich zog. Unter dem Gewächshaus liegend, schaufelte ich mit verkrampften Fingern Bücher, Hefte und andere Utensilien zusammen mit Erdklümpchen in den Ranzen, und hörte dabei, wie meine außer Atem geratenen Verfolger sich etwas zuriefen, um ihr Vorgehen zu koordinieren.
- Wo ist dieses Arschloch? Der war doch eben noch da.
- Der läuft uns schon nicht weg, dieser Kacker!
- Vielleicht ist er doch abgehauen? Durch die Bäume?
- Nee. – Das war Jura, mein schlimmster Widersacher. – Der entkommt uns nicht.
Meine Nerven gingen mit mir durch. Ich sprang hoch, schleuderte meinen Ranzen auf den Rücken und stürzte in Richtung Zaun.
- Da ist er! – ertönte ein Mordsgeschrei, - Kreis' ihn von links ein, von links... da ist er!
Ich schlug mich durch Apfel- und Birkenbäume, ohne auf die mein Gesicht peitschenden Äste zu achten, und war nur auf eins bedacht: „Fall' nicht hin, fall' nicht hin!“ Da hatte mich einer der Verfolger schon eingeholt und sich geschickt unter meine Beine geworfen, doch ich schaffte es noch, ihn zu überspringen, weichte dem anderen aus und war schon am rettenden Zaun. Ich warf den Ranzen herüber, hopste über den zwei Meter hohen Zaun – und weg war ich. Diesmal kam ich mit einem kleinen Schrecken davon, obwohl ich den ganzen Weg nach Hause zitterte und mir speiübel war.
Viele aus unserer Klasse konnte man dem übelsten Gesindel zurechnen. Die schossen während des Unterrichts aus Schleudern auf Klassenkameraden und Lehrer oder ballerten aus selbstgebastelten Knallbüchsen – das waren Kupferröhrchen, die an einem Ende umgebogen und verschweißt wurden. Die Röhrchen wurden mit Schießpulver oder Schwefel, der von Streichhölzern abgekratzt wurde, gefüllt. An der Öffnung wurde ein Nagel mittels eines Gummibandes angebracht. Der vom Gummi gelöste Nagel schoss ins Röhrchen, erhitzte sich unterwegs und löste eine Explosion des Knallgemischs aus. Im Klassenraum entstand ein unglaublicher Krach. Die Lehrer konnten nichts unternehmen, sie hatten selbst Angst vor diesen Misthunden. Natürlich waren das alle eingefleischte Fünferkandidaten, die nichts lernten und auch nicht in der Lage waren, etwas zu lernen, da bei ihnen zu Hause dieselben Verhältnisse herrschten: Gewalt, Sauferei, Randale.
Als Jura Butusow der Lehrerin mit der Schleuder in den Rücken feuerte, hielt ich es nicht aus und sagte, dass er derjenige war, der geschossen habe. Sie bedankte sich für meine mutige Tat und brachte die Stunde unter Tränen mit Müh’ und Not zu Ende, während Jura mir durch Zeichen zu verstehen gab, dass meine glückliche Kindheit nun zu Ende war. So kam es dann auch.
Als ich in der Pause auf den Schulhof ging, wurde ich von mehreren Jungs eingekreist, die mich in schönster Eintracht in den entlegensten Winkel des Hofes drängten. Sobald wir eine uneinsehbare Stelle erreicht hatten, dreschten sie auf mich ein. Es gab des Öfteren Raufereien auf unserer Straße, so dass ich es nicht zum ersten Mal mit zahlenmäßig überlegenen Feinden zu tun hatte, doch dort hatten wir immer rechtzeitig mit der Schlägerei aufgehört, bevor jemandem schlimme Verletzungen zugefügt wurden. Aber dies war keine einfache Prügelei, sondern ein Kampf ums Überleben. Die Jungs, die mit meiner verzweifelten Abwehr nicht gerechnet hatten, hörten ungeachtet der Aufrufe von Jura die Exekution fortzuführen, auf. Plötzlich flimmerte am Horizont Hoffnung auf: zu den Jungs, die unschlüssig auf der Stelle traten, gesellte sich Ljonja Kalinin, ein in der Schule für seine Bärenstärke berühmter Junge, der in bestimmten Kreisen hoch geschätzt war. In jeder Klasse blieb er mehrmals sitzen, so dass man kaum ausrechnen konnte, wie alt er war. Ich besuchte damals die Fünfte, er war in der Sechsten, doch ein paar Jahre später landeten wir auf unerklärliche Weise dennoch zusammen in einer Klasse. Ljonja kam watschelnd zu ihnen und fragte Jura nach dem Sinn der Veranstaltung. Der gab leise etwas zurück und Ljonja steuerte auf mich zu.
- Und was ist hier los? Wie heißt du?
- Andrej.
- Na, was ist los, Andrjuscha? – fragte er mich äußerst freundlich.
„Gott sei Dank“ schoss es mir durch den Kopf, „ich bin davongekommen, der wird mir doch helfen?“
- Was ist, gehen sie dir zu Leibe?
- Hör mal, wie Hunde haben sie mich überfallen. Ich werde sie nicht los.
- Diese Mistkerle, - empörte er sich, erhob seine rechte Faust und rammte sie mir mit aller Kraft ins Gesicht. Ich flog auf den Boden, die in der Nähe stehende Clique ging zur Sache und bearbeitete mich nun mit Fäusten und Tritten, doch Ljonja drehte sich ruhig um und ging seines Weges.
Seit diesem Tag war die Jagdsaison auf mich ganzjährig eröffnet. Ich hatte Angst, in die Schule zu gehen: fast jeder hatte das Recht, mich zu schlagen oder zu beschimpfen, vor anderen zu demütigen und, was besonders peinlich war, all das in Gegenwart von unseren Mädchen. Als wir in der sechsten Klasse das Fach Optik durchnahmen, hielten mich in einer Pause ein paar Leute an den Armen fest und Witja Alfjorow versuchte mit Hilfe einer Lupe herauszufinden, ob Menschenhaare auch durch Sonnenstrahlen Feuer fangen können. Es waren meine Kopfhaare.
Die ersten Anzeichen einer Schizophrenie machten sich bei mir bemerkbar, als ich in die Grundschule kam. Das Leben in der Gesellschaft unterschied sich gravierend von meiner sorgenfreien Vorschulzeit. Allein mein Familienname, dessen Klang bei mir früher kein Befremden auslöste, hatte sich als seltsam herausgestellt. Auf jeden Fall rümpften manche Lehrer beim Aussprechen desselbigen ihre Nasen und die Klassenkameraden guckten mich mit Misstrauen an. In unserer Straße lebten ein paar weitere deutsche Familien, so dass wir Kinder uns über unsere Herkunft keine Gedanken gemacht hatten; in der Schule fiel diese dann doch ins Auge. Und schließlich beteten wir zu Hause immer vor dem Essen und dem Schlafengehen; in der Schule war das unangebracht. Da ich befürchtete, vom Allwissenden bestraft zu werden, versteckte ich vor dem Frühstück die Hände unter der Schulbank, lispelte unauffällig die angemessenen Worte und machte mich dann ans Essen. Meine Persönlichkeitsspaltung war in vollem Gange.
Stolz trug ich das Abzeichen der Oktoberkinder, später auch das feurig-rote Halstuch der Jungpioniere, doch als ich als Komsomolze meinem Vater erklärte, dass ich zur Oktoberdemonstration gerne eine Nelke im Knopfloch tragen würde, verzog er sein Gesicht und sagte, dass es genüge, wenn ich einfach so hinginge. Da begriff ich, dass selbst mein Vater nicht immer aufrichtig war. Auch das Lernen, an dem ich grundsätzlich Gefallen fand, wirkte sich auf meine Lage aus. Ich war ein guter Schüler, doch Jura Butusow und seine Mannschaft mochten Musterschüler absolut nicht, und diese bekamen es doppelt- und dreifach zu spüren. Man musste es hinkriegen, schlechte Noten zu bekommen, um nicht das ganze Programm durchzumachen. So ging es dann weiter: ich sagte nicht mehr das, was ich dachte, machte nicht mehr das, was ich wollte, begriff aber später, dass das in unserer geliebten Heimat auf allen Ebenen getrieben wurde und machte mir keine allzu großen Gedanken mehr darüber.
Die Straßen unseres Städtchens durchstreifte ich nun unter Einhaltung aller Sicherheitsvorkehrungen: ich beobachtete aufmerksam diejenigen, die vor mir waren, nicht ohne mich ab und zu nach hinten abzusichern, um nicht einen unerwarteten Schlag zu bekommen. Aus Indianergeschichten erfuhr ich viel Nützliches: wie man sich rechtzeitig hinter einem Baum oder im Gebüsch verstecken kann, wie man eine Strecke kriechend unbemerkt zurücklegen oder komplett mit seiner Umgebung verschmelzen kann. Diese Kunst brachte ich zur Vollkommenheit, obwohl auch sie hin und wieder nicht helfen konnte. Wenn ich abends mit irgendeinem Auftrag zu unseren Verwandten, die nicht sehr weit weg wohnten, geschickt wurde, so bemühte ich mich im Schatten von Gebäuden zu gehen oder mich springend von einem Versteck zum anderen fortzubewegen, denn an allen Kreuzungen standen in der Erwartung neuer Opfer Gruppen von herumlümmelnden Halbwüchsigen.
- Hör mal! Warum immer diese traurigen Sachen! – rief Andrej während unserer nächsten Sitzung aus. – Es war ja nicht alles so schlimm, und auch das Problem mit Jura Butusow hat sich zu meinen Gunsten entschieden.
Als ich in der neunten Klasse war, beschloss unser lokaler Eric Clapton, Viktor Sydorenko, eine neue Band zu gründen. Unserer Meinung nach beherrschte Viktor das Gitarrenspiel meisterhaft, auf jeden Fall spielte er schon damals das „Birthday“ von den Beatles, und diese neuartige Musik erregte unsere musikalischen Nerven bis aufs Äußerste. Er hatte eine alte bulgarische Elektro-Gitarre, die er später gegen eine neue Eterna aus der DDR tauschte. Ihre elegante Form, die schwarze, matt glänzende Färbung und der verchromte Gitarrenvibrator riefen bei allen Bandmitgliedern leichten Schwindel hervor. Am meisten litt unser Bassist: da es fast unmöglich war, eine Bass-Gitarre zu beschaffen, hatten wir mit vereinten Kräften selbst eine hergestellt. Wir sägten einen hölzernen Gitarrenkörper aus, brachten selbstgemachte Wirbel und Tonabnehmer an und zogen die von Viktor durch Beziehungen beschafften Saiten auf. Man sollte sehen, wie verkniffen der Bassist seinen Bass zupfte und in Viktors Richtung schielte, der mit einer äußerst zufriedenen Miene seiner Eterna die zauberhaftesten Töne entlockte.
Viktor hatte keinen Schlagzeuger und war entschlossen, mir diesen Posten anzuvertrauen. Mehrmals zeigte er mir verschiedene Rhythmen, die ich sehr bemüht, aber ungeschickt wiederzugeben versuchte, bis er die Geduld verlor und einen anderen, fähigeren Schüler fand. Doch Viktor brauchte auch einen Sänger, und das war der Anfang meines unerhörten Aufstiegs. Es stimmte ja: egal wie gut man als Gitarrist ist, man bleibt immer die Nummer zwei! Im Englischen heißen die Sänger nicht zu Unrecht „frontman“. Die Wirkung dieses Prinzips sieht man zum Beispiel auch an den Rolling Stones: wie sehr sich Keith Richards auch bemüht und herumzappelt – er spielt gut und schreibt die Musik zu den Songs, er säuft mehr als die anderen, zieht alle möglichen Substanzen in sich hinein, aber Jagger ist der Chef.
Auf jeden Fall stand ich schon kurz danach im Mittelpunkt jeglichen Geschehens, begeisterte Blicke der Mädchen und neidvolles Geglotze ihrer Geschlechtskontrahenten auf mich ziehend. Wer kann schon beim Anblick eines jungen Mannes, der wehmütig „There is a house in New Orleans“ heult und dann fast hysterisch „... they call the rising sun!“ kreischt, gleichgültig bleiben?
Wir spielten auf so vielen Schulpartys, dass sich mein Ruhm schnell in unserer kleinen Stadt verbreitete. Doch das, was sich abspielte, als wir zwischen den Filmvorführungen im Kino „Pobeda“ auftreten durften, sprach nicht mehr für bloßen Ruhm – das war reine Anbetung! Die Kinobesucher verzichteten sogar auf die Vorführung, blieben im Foyer und verlangten nach immer mehr Songs.
Meine Reise nach Moldawien, die im nächsten Sommer stattfand, war ein Ereignis, das meiner musikalischen Entwicklung einen neuen Impuls bescherte. Dort kaufte meine Mutter einem Verwandten eine neue 6-saitige Gitarre aus DDR-Produktion ab, die es mir angetan hatte. Bis dahin hatte ich nur 7-saitige Gitarren gespielt, deren Qualität zu wünschen übrig ließ, und hier so was: bequeme Wirbel, ein lackierter Körper und Nylonsaiten – ein Traum!
Doch damit nicht genug! Die Verwandten, bei denen wir abgestiegen waren, bewohnten ein eigenes Haus, das Platz für alle bot: für die Gastgeber und deren Kinder, Besucher aus fernen Gegenden und sogar für moldawische Mädchen, die in der Sommerzeit die Fachschulen von Bendery stürmten. Bei Tante Katja hausten drei bezaubernde Exemplare, die sich den ganzen Tag irgendwo herumtrieben und erst abends nach Hause kamen. Wir saßen dann bis spät in die Nacht im Hof unter einer Weintraubenüberdachung, lauschten dem rumänischen Radio, tranken leichten Wein, erzählten Witze und flirteten zaghaft miteinander. Eine dieser langbeinigen, kurz beröckten Schönheiten, hatte es mir besonders angetan. Wenn sie auf der Bank sitzend ein Bein über das andere schlug, zuckte unter dem Röckchen die grelle Flamme ihres roten Slips auf, was mich in den Wahnsinn trieb. Den ganzen Abend wartete ich auf den nächsten Stellungswechsel der Beine und schielte ununterbrochen heimlich auf das verführerische Dreieck. Ich schlief schlecht in diesen schwülen moldawischen Nächten, und Schuld daran waren wohl die unsichtbaren aber allgegenwärtigen Zikaden, der verblüffend sternenreiche südliche Himmel und der riesige Mond, der neugierig in mein Kämmerlein lugte, in dem ich mich auf einem schmalen Klappbett wälzte.
Die moldawische Rock-Band „Norok“ erfreute sich damals in der UdSSR einer großen Beliebtheit, und ihre Songs wurden im ganzen Land gesungen. Der Vortrag dieser Lieder im fernen Isilkul in der moldawischen Sprache würde meinem Ruhm eine unerreichbare Dimension bescheren und meinen Namen für immer in den Annalen unserer Stadt verewigen. Da war ich mir ganz sicher. Lena, so hieß meine langbeinige Angebetete, erklärte sich sofort bereit, mir in dieser Angelegenheit zu helfen. Sie hörte sich mehrmals die zerkratze Schallplatte an und kritzelte mir die Texte der beliebtesten Lieder der Band, „Ein Künstler singt“ und „Worüber die Gitarren weinen“, nieder, wobei bei mir der Verdacht aufkam, dass Lenas Schwierigkeiten nicht mit dem Zustand der Platte zusammenhingen, sondern einen rein sprachlichen Hintergrund hatten, was meiner Liebesbrunst einen Dämpfer verpasste.
Schon im Herbst trällerte ich von der Bühne unseres Kinos in fehlerlosem Moldawisch das Lied von einem Künstler, der ein Optimist sei, „Cinta un Artist, zimbet optimist...“, und Viktor, der sein Solo hinschmetterte, schaute mit unverhohlenem Stolz aufs Publikum. Und wenn wir die „Gitarren“ anstimmten, “De ce plang chitarele, stiu doar felinarele...”, dann war die Begeisterung des Publikums nicht mehr zu bremsen! Was soll dieses „While my guitar gently weeps“? Unsere Gitarren, DIE weinten, und wie! Und zusammen mit ihnen weinten unsere Zuhörer, die sich weigerten, den Zuschauerraum zu betreten, wohin sie von den Platzanweiserinnen getrieben wurden. Und genau dieser Erfolg brachte uns um unsere Einnahmequelle: die Kinoverwaltung verlängerte unseren Vertrag nicht weiter mit der Begründung, dass wir daran Schuld waren, wenn der Zuschauerraum fast immer leer blieb.
Doch der große Triumph kam erst später, als ich an der Pädagogischen Hochschule in Omsk eingeschrieben war. Ziemlich schnell hatte ich ein paar Beatles-Songs gelernt, die ich mit unsagbarem Erfolg auf den Isilkuler Tanzflächen vortrug, was mir den Ruf eines großen Kenners der westlichen Rockmusik einbrachte.
Du hättest unsere Freitanzfläche sehen sollen! Im Zentrum des Stadtparks, vor einer Kulisse aus Bäumen und bescheidenen Sträuchern, erhob sich das Musikpodium über die mit einer Holzdiele bedeckten Tanzfläche, die von einem zwei Meter hohen Zaun aus Zierlatten, die in einem Abstand von etwa fünf Zentimetern angenagelt waren, umrundet war. Über Kieselsteinpfade strömte an Samstagabenden die nach Vergnügungen lechzende Isilkuler Jugend dorthin und tanzte zu unserer Begleitung ungestüm die angesagtesten Tänze der damaligen Zeit. Ich persönlich fand wenig Gefallen an diesen Tanzabenden. Da war immer mit Ärger zu rechnen, doch das Fehlen von anderen Amüsements in Isilkul, aber auch das Verlangen nach einem Flirt mit den Mädels gaben mir keine Ruhe. Was soll denn ein junger Mann an einem warmen Sommerabend zu Hause machen!? Die echten Kerle kamen zu den Tanzveranstaltungen mit verbundenen Händen: während einer Schlägerei bat diese Vorsichtsmaßnahme große Vorteile: der Schlag fiel stärker aus und die eigenen Knochen wurden nicht so sehr in Mitleidenschaft gezogen. Es war belustigend und unangenehm zugleich, während des Tanzes hinter den Mädchenrücken die verbundenen Hände zu sehen, die jederzeit bereit waren, einen vernichtenden Schlag auf das Kinn des Feindes zu landen.
Für gewöhnlich musste man nicht lange auf ein Scharmützel warten: ruck-zuck fühlt sich einer beleidigt, lässt den anderen wissen, dass er ein Arschloch sei, dieser ruft seine Freunde und schon jagt ein Wirbelsturm von Flüchtigen und Verfolgern über die Tanzfläche, in der Luft schießen verbundene Hände auf, dunkel schimmern Blutlachen auf dem Boden, die von den Tanzenden vorsichtig umkreist werden. Die Flüchtigen suchen ihre Rettung auf dem Musikpodium inmitten der Musiker – wir hören nicht auf zu spielen – das Schlagzeug fällt um, die Verfolger demolieren alles, was ihnen im Wege steht. Die Flüchtigen laufen auf die Tanzfläche hinaus, springen über den hohen Zaun, die Jäger ihnen hinterher und die Verfolgung verlagert sich nach draußen. Sehr schnell, buchstäblich nach dreißig bis vierzig Minuten, kommt eine Milizstreife und sucht nach Zeugen des Geschehens. Doch es gibt keine, niemand hat etwas gesehen; die einen sind gekommen, als die Schlägerei schon vorbei war, die anderen waren gerade Rauchen gegangen. Nach Begutachtung der Blutlachen gehen die Milizionäre weg, das Tanzen geht weiter.
Einmal unterhielt ich mich friedlich an der Umzäunung der Tanzfläche in der Pause zwischen den Auftritten mit Valeri, dem Schlagzeuger der Isilkuler Band. Das Thema unseres Gesprächs war von großer Bedeutung: wer war besser – die Beatles oder die Rolling Stones? Kaum waren wir ins Gespräch gekommen, da tauchte aus dem Gebüsch ein Schießbudenfigürchen auf, schüttelte sich, schaute sich um und - mir blieb der Atem weg: Jura Butusow! Seit Ewigkeiten hatte ich ihn nicht gesehen und würde ihn noch mal so lange nicht vermissen. Mir wurde übel; von diesem Treffen konnte ich nichts Gutes erwarten. Und tatsächlich, er erkannte mich sofort und steuerte direkt auf uns zu.
- Was is’, Valera, was stehst du mit diesem Wichser hier ’rum? – fragte er Valeri. – Was machst du hier? – gab er in meine Richtung.
- Wer ist das? – fragte Valeri seelenruhig. – Kennst du ihn?
- Und ob ich ihn kenne. Jura Butusow, - gab ich zaudernd zurück.
- Na und, was willst du, Jura Butusow?
Plötzlich schien es, als fühle sich Jura nicht ganz wohl, anscheinend wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte. Man konnte es förmlich sehen, dass er in Anwesenheit von Valeri keinen Angriff wagen würde.
- Ich kenne diesen Levin noch aus der Schule, du blöder Wichser, du...
- Hör mal, Valera, - sprang ich dazwischen, - der geht mir mein Leben lang auf die Nerven...
- Valertchik, du kennst doch diesen Kleinscheißer, dem müsste man mal wieder die Fresse polieren.
Valeri, der sich mit dem Rücken an die Umzäunung angelehnt hatte, beobachtete das Ganze unaufgeregt, doch plötzlich verdunkelte sich sein Gesicht und er zischte:
- Hör mal, du Wichser, mach dich klein!
- Was is’, was is’... - stotterte Jura.
- Sofort! - Valeris Stimme klang unverhohlen bedrohlich.
Und tatsächlich machte Jura einen Knicks, einen halben Kopf kleiner werdend und verharrte so in Erwartung weiterer Anweisungen. Ich konnte mein Staunen kaum verbergen.
- Und jetzt weg mit dir, und zwar ein bisschen plötzlich! – befahl Valeri und Butusow verschwand im Gebüsch genauso schnell, wie er eben aufgekreuzt war.
Valeri hörte sich meinen Bericht an und fragte vertraulich:
- Soll ich ihn umbringen lassen?
Mir fielen fast die Augen aus den Augenhöhlen:
- Nein, lass das, er wird schon von selbst eingehen.
- Na, wie du meinst. Ich glaube nicht, dass er dich noch mal anrühren wird. Na, mach’s gut, ich muss noch den zweiten Teil hinter mich bringen.
Später erfuhr ich von Bekannten, dass Valera Anführer der Bande aus Berjosowka gewesen war – das waren erklärte Halsabschneider. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, dass unser sympathischer und ausgeglichener Schlagzeuger so eine Autorität unter den Isilkuler Banditen genoss.
Ja, und die ständige Angst wurde ich erst in Omsk los. Nie werde ich dieses Gefühl der Freiheit vergessen, das mich plötzlich ergriff! Ich lief durch die große Stadt, in der mich niemand kannte und wo keiner sich um mich scherte. Doch den Entschluss, niemals wieder Angst zu haben, hatte ich einem Zufall zu verdanken.
An einem späten Abend ging ich nach dem Unterricht nach Hause und genoss in vollen Zügen meine neu erlangte Freiheit. Der Weg von der Bushaltestelle bis zu meiner Wohnung war nicht besonders weit, der Schnee knirschte fröhlich unter meinen Füßen und hallte in der schmalen Straße wieder, und da es sich genauso anhörte, wie das Knirschen einer gefrorenen Wurst beim Zerbrechen, wurde mein Mund sofort mit Speichel überflutet. Schon hatte ich in Gedanken die Pfanne erhitzt, um die hausgemachte Räucherwurst zu braten, die meine Mutter der wöchentlichen Lebensmittelration, die ich von der letzten Heimreise mitgebracht hatte, beigefügt hatte, als mir zwei Männer aus einer Nebenstraße entgegen kamen. Hinter sich eine lange Alkoholschleife schleppend, kamen sie näher und baten um eine Zigarette. Gerade so wie in dem Witz:
In einer Winternacht, bei starkem Frost geht ein junger Mann durch die Straßen. Fast nackt: ohne Mantel, Sakko, Handschuhe, Hosen. Er hat nur noch Socken, die Unterhose und eine schäbige Mütze an. Wird er von zwei Männern angesprochen:
- Hey, Junge, hast du was zu Rauchen?
Der junge Mann zieht seine Mütze ab, reicht sie den Männern, und ruft bitter:
- Wann endlich werdet ihr alle genug geraucht haben?
Ohne lange zu überlegen verpasste ich dem ersten eine, und der – rumms – in den Schneehaufen. Der andere lief weg, ich holte ihn ein, gab ihm einen Tritt, und auch der landete im Schnee. Ich rannte nach Hause, aber nicht direkt, sondern auf Umwegen, um meine Spuren zu verwischen. Natürlich überlegte ich später, ob die wohl in der Tat nur eine rauchen wollten, doch andererseits – was soll das! Nachts herumstrolchen und zu zweit Zigaretten schnorren!