Hüben wie drüben

Lustige und weniger lustige Kleingeschichten

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Die Feuertaufe

 

Schon als Schüler war ich ein passionierter Wandervogel, nahm an wochenlangen Fahrradtouren und Zeltlagern teil und hatte sogar irgendein Touristenabzeichen. Über viele Kilometer fuhr ich mit unserem Sportlehrer Viktor Ossokin zum Angeln, der mich und meinen Cousin Heinrich Petker, der für jeden Unfug zu haben war, gerne mitnahm. Viktor Ossokin hatte in der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg gekämpft, verfügte über eine bemerkenswerte Gesundheit, und das Geschick, mit dem er sich am Reck drehte, erzeugte bei uns Schülern Neid und den Wunsch genauso stark und wendig wie er zu sein. Viktor Ossokin war felsenfest von der Notwendigkeit einer militärischen und körperlichen Ausbildung der jungen Generation überzeugt, die sich auf jeden Fall irgendwann im Schützengraben wieder finden würde – Feinde hatten unsere geliebte Heimat umzingelt und warteten nur auf einen günstigen Zeitpunkt für einen hinterhältigen Überfall. Und da sollten wir – die im Alltag so friedliebenden Schüler, im Kampf aber unverwüstliche Krieger - nicht nur den Angriff zurückschlagen, sonder auch gleich den Feind auf seinem Gebiet vernichten. Wir legten die Kalaschnikow auseinander und bauten sie wieder zusammen, übten uns im Geländelauf und unternahmen trotz 25 Grad Minus Skigeländemärsche, drehten im Stadion unzählige Runden, Verwünschungen auf das Haupt dieses ehemaligen Haudegens herabrufend.

Im Sommer 1970 wurde unsere Klasse in ein Militärlager in der Nähe von Omsk geschickt, wo man uns die neue Militärdoktrin der UdSSR erläuterte: von nun an zählten nicht die Imperialisten der USA oder die Revanchisten der Bundesrepublik Deutschland zu den größten Feinden unseres Landes, sonder ehemalige Waffenbrüder – die Volksrepublik China und deren Streitkräfte. Vor einem Jahr hatten sich die sowjetischen und chinesischen Grenztruppen wegen der Damanski Insel im Fluss Ussuri eine blutige Rauferei geliefert und obwohl die Kriegshandlungen abgebrochen worden waren und die Insel ohne viel Trara den Chinesen überlassen wurde, konnten sich die ehemals befreundeten Völker nicht endgültig wieder vertragen, sondern belauerten sich argwöhnisch, in der Hoffnung einen Vorwand für neue Schlägereien finden zu können.

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